Leben mit Leonie - und ihrer Krankheit
Hoffnung auf ein gesundes KindNadine und Markus wünschen sich ein gesundes Kind. Ihre Tochter Leonie leidet unter einem tödlichen Gendefekt. Ursache ist ein defektes Gen, das Nadine und Markus jeweils in sich tragen. Sie haben es an Leonie weitergegeben. Ihre einzige Hoffnung auf ein zweites, gesundes Kind ist die Präimplantationsdiagnostik, kurz PID. Dabei wird eine künstlich befruchtete Eizelle vor dem Einpflanzen in den Mutterleib genetisch untersucht. Die Methode ist seit 2014 in Deutschland unter strengen Voraussetzungen erlaubt und war politisch höchst umstritten. Kritiker befürchteten einen "Dammbruch", den ersten Schritt zum "Designerbaby". Nadine und Markus sind die ersten Eltern, die im Rhein-Main-Gebiet die Zulassung für eine PID erhalten haben. Wir begleiten die Familie auf ihrem Weg.
Der Wunsch
Normalität erleben dürfen„Wir möchten erleben dürfen, was Normalität in einer Familie heißt“, sagt Nadine. Normalität. Das ist der Plan von Nadine und Markus: Sie wollen ein zweites Kind bekommen, das gesund ist. Ein komplizierter Plan.
Und plötzlich ist alles andersIm Moment sind Nadine und Markus weit davon entfernt, eine normale Familie nach normalen Maßstäben zu sein. Leonie, die im Dezember fünf Jahre alt wird, leidet aufgrund des Gendefekts unter einer seltenen Stoffwechselstörung. Diese führt zu Eisenablagerungen im Gehirn und ist mit dem Krankheitsverlauf einer Demenz vergleichbar. Als Leonie ein Jahr alt war, hat die Krankheit mit ihrem zerstörerischen Werk begonnen.
Bis zum ersten Lebensjahr normal entwickelt
Ein defektes Gen
Wie ein SäuglingLeonie kann nur noch liegen und Laute von sich geben. Sie ist pflegebedürftig wie ein Säugling. Man kann es je nach Einstellung des Betrachters Zufall, Schicksal oder einfach "Pech" nennen, dass Nadine und Markus jeweils eine defekte Kopie des gleichen Gens in sich tragen. Das hat keinerlei Auswirkung auf ihren eigenen Gesundheitszustand. Für ein gemeinsames Kind aber ist dies mit einer Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent eine tödliche Kombination, die eben jene Eisenablagerung im Gehirn auslöst
Die ExpertinProf. Dr. Susann Schweiger ist Leiterin des Instituts für Humangenetik an der Universitätsmedizin Mainz, des dort angesiedelten Zentrums für seltene Erkrankungen und des PID-Zentrums. Das Zentrum stellt die Diagnose und behandelt Paare aus Hessen und Rheinland-Pfalz, die für eine Präimplantationsdiagnostik in Frage kommen. Schweiger betreut Leonie seit ihrem ersten Lebensjahr medizinisch und hat den Antrag der Familie auf eine PID unterstützt.
Warum ist Leonie so schwer erkrankt?
Tödliche Kombination
Wie sieht Leonies Krankheitsverlauf aus?
Keine Heilung
Es bleibt nicht viel ZeitNadine und Markus wissen nicht, wann ihre kleine Tochter sterben wird. Aber sie wissen, dass ihnen nicht mehr viel gemeinsame Zeit bleibt. Wenn die beiden es schaffen, über diese grausame Gewissheit zu sprechen, dann sagen sie: „Wenn Leonie nicht mehr bei uns ist.“
Präimplantationsdiagnostik
Zum AnfangWann ist eine PID in Deutschland zulässig?
Die deutsche Regelung
Die ethische DimensionGegner der PID befürchten, dass mit der Zulassung der Diagnostik ein Tor geöffnet wird, das sich nicht mehr schließen lässt. Sie sprechen von einem Instrument zur Selektion, der Auslese vermeintlich menschenunwürdigen Lebens - im Kern eine Diskriminierung von behinderten und schwer kranken Menschen. In der PID sehen die Gegner auch die Gefahr eines ersten Schrittes hin zum "Designerbaby" - bei dem mit Hilfe der Gendiagnostik Wunschmerkmale ausgewählt werden.
Die DebatteJahrelang hat der Deutsche Bundestag hochemotional über die PID diskutiert und gestritten. Seit 2014 ist die PID rechtssicher geregelt. Eine Ethikkommission muss über die Zulassung zur PID entscheiden. Für Rheinland-Pfalz und Hessen hat erst Anfang 2016 eine länderübergreifende Ethikkommission ihre Arbeit aufgenommen.
Auf der folgenden Seite sehen Sie einen interaktiven Zeitstrahl zur Debatte - Klicken Sie sich durch.
Gesetz zum Schutz von Embryonen
PID-Pionier zeigt sich an
BGH entschiedet über PID
Abstimmung im Bundestag
Ärztetag mit klarem Votum
Ethikrat nicht einig
Wissenschaftler äußern sich
Kabinett beschließt Verordnung
Ethikkommissionen entstehen
Entscheidung für Hessen und RLP
Stimmen aus dem Plenum
Der AlltagFür viele Parlamentarier war die Debatte über die PID hochemotional, ethisch, aber auch sehr abstrakt. Für Nadine und Markus aber ist das Leben mit einem unheilbar kranken Kind, die Bürde ihrer risikoreichen genetischen Veranlagung und der innige Wunsch nach einem gesunden Geschwisterchen für Leonie sehr real. Es ist ihr Alltag.
"Unser Weg"
Nadines Antwort mit Klick auf den Pfeil abspielen:
Darf man in die Natur eingreifen?Nadine ist ein gläubiger Mensch und hat sich mit der ethischen und religiösen Dimension der Debatte beschäftigt. Es geht ihr nicht um ein "Designerbaby". Die Frage, ob der Mensch in Form der PID in die Natur eingreifen darf, hat sie für sich längst beantwortet.
Prof. Schweiger findet nicht nur als Wissenschaftlerin, sondern auch aus ethischer Sicht klare Worte für die jahrelange Debatte
"Mehr Demut vor dem Leid"
Die Begründung von Susann Schweiger
Später Schwangerschaftsabbruch Während um die Zulassung der PID lange politisch gerungen wurde, ist eine genetische Diagnose während der Schwangerschaft und die Möglichkeit eines sehr späten Schwangerschaftsabbruches rechtlich schon sehr viel länger zulässig. Für Professor Schweiger ist das ein Widerspruch:
Zentrum für drei LänderAm Institut für Humangenetik an der Mainzer Universitätsmedizin ist das einzige PID-Zentrum angesiedelt, das für Rheinland-Pfalt, Hessen und das Saarland die Genehmigung zur PID hat. Professor Schweiger rechnet mit acht bis zwölf Paaren, die sich pro Jahr bei ihr für die PID vorstellen werden.
Ethikkommission entscheidetBei der Landesärztekammer Baden-Württemberg ist seit 2015 die Ethikkommission angesiedelt, die für sechs Bundesländer im Südwesten zuständig ist, darunter auch Hessen und Rheinland-Pfalz. Sie entscheidet, ob ein Paar zur PID zugelassen wird. In der Kommission sind Sachverständige aus den Bereichen Medizin, Ethik und Recht vertreten.
Wer zahlt?Die Krankenkassen übernehmen die Kosten für eine PID nicht. Das Mainzer PID-Zentrum kalkuliert für Behandlung und Diagnose rund 15 000 Euro - das beinhaltet aber nur einen Zyklus für eine Implantation eines Embryos. Die Wahrscheinlichkeit, dass dabei eine Schwangerschaft entsteht, liegt zwischen etwa 18 und 30 Prozent. Prof. Schweiger geht deshalb davon aus, dass in der Regel mehr als ein Zyklus nötig sein wird. Die Familie von Leonie hat eine Möglichkeit und Unterstützung gefunden, die hohen Kosten zu decken.
Die Behandlung beginnt
Nachricht von der KommissionAm Telefon hat Nadine Ende Mai 2016 erfahren, dass die Ethikkommission ihrem Antrag auf die PID entsprochen hat. Das bedeutet: Alle für die PID notwendigen Untersuchungen können beginnen. Markus und Nadine haben entschieden, dass sie maximal drei künstliche Befruchtungen durchführen werden.
Erste Eizellen werden untersuchtNadine hat die erste Hormonbehandlung und Entnahme von elf Eizellen bereits hinter sich. Acht Zellen ließen sich künstlich befruchten, nur zwei davon haben sich normal entwickelt. Auf diesen beiden liegt nun die Hoffnung der Familie. Sind sie Träger des genetischen Defekts oder nicht?
Mit ZuversichtBei Ehemann Markus mischt sich die Freude darüber, dass die PID zugelassen und mit der Behandlung begonnen worden ist, mit der Gewissheit, dass er nun konkrete Vorkehrungen treffen muss. Neben seiner Arbeit in der KFZ-Branche baut er derzeit mit Unterstützung von Familie und Freunden ein älteres Haus um. Er ist mit Nadine und Leonie erst vor kurzem in die „halbe Baustelle“ eingezogen. „Jetzt muss ich mit dem zweiten Kinderzimmer in die Gänge kommen“, sagt Markus lachend und zuversichtlich, als könne nichts schief gehen.
"Ich bin da anders"
Ein guter TagLeonie hat heute einen guten Tag. Nadine, die selbst als Erzieherin arbeitet, hat ihre Tochter aus der Integrativen Kita im Rheinhessischen abgeholt. Dort wird Leonie von zwei Integrationshelferinnen betreut. Auch die anderen Kinder kümmern sich liebevoll um Leonie.
In der KitaLeonie wird in der Kita von ihren Integrationshelferinnen Eva und Jana betreut
"Dann ist die Familie komplett"Manche Menschen verstehen nicht, dass die Eltern vielleicht mehrfach die beschwerliche Prozedur einer künstlichen Befruchtung auf sich nehmen wollen, während Leonie noch ihre volle Aufmerksamkeit und Kraft fordert.
Es wird nicht nur ein schwerer Weg werden, sondern auch ein unberechenbarer.
Hoffnung auf ein gesundes KindEine interaktive Reportage der VRM
Alexandra Eisen
Videoproduktion
Simon Rauh
Alexandra Eisen
Fotos
Sascha Kopp
Simon Rauh
Deutscher Bundestag/Lichtblick/Achim Melde Landesärztekammer Baden-Württemberg
dpa
Archivmaterial
Deutscher Bundestag
Grafik
Matthias Zink
dpa
Animation
Timm Skupien
Interface-Design
Werner Wenzel
Karsten Gerber
VRM 2016
Gesetzgebung
1. Januar 1991
2005
2009
Januar 2011
8. März 2011
13 Mitglieder votieren für eine Zulassung der PID unter streng begrenzten Voraussetzungen.
Elf Mitglieder sind grundsätzlich dagegen.
Ein Mitglied enthält sich der Stimme und ein weiteres empfiehlt in einem Sondervotum die generelle Zulassung der PID zur Feststellung lebensfähiger Embryonen.
1. Juni 2011
7. Juli 2011
19. Februar 2013
Februar 2014
15. Juli 2015
Stimmen aus der Debatte
Das Statement von Volker Kauder im Original
"Es geht heute um die Ethik des Lebens." Volker Kauder, CDU
Das Statement von Ursula von der Leyen im Original
"Ich habe als junge Ärztin geglaubt, vieles zu wissen, aber die Wucht des Schicksals rund um Schwangerschaft und Geburt hat mich sehr still werden lassen."Ursula von der Leyen, CDU
Das Statement von Wolfgang Thierse im Original
"PID verhindert in jedem Fall das Lebensrecht menschlichen Lebens." Wolfgang Thierse, SPD
Das Statement von Katherina Reiche im Original
"Ein totes Kind ist eine Lebenskatastrophe, die niemals heilt."Katherina Reiche, CDU
Das Statement von Julia Klöckner im Original
Ist der Damm erst einmal gebrochen, wird (...) der Druck auf die Frauen steigen."Julia Klöckner, CDU
Das Statement von Jerzy Montag im Original
"Wir wollen die PID erlauben, um verzweifelten Paaren zu helfen"Jerzy Montag, Grüne
Das Statement von Birgit Bender im Original
"Dieses Verfahren ist eine Entscheidung über den Wert von (...) Leben."Birgitt Bender, Grüne
Das Statement von Peter Hintze im Original
"Nicht eine Ethik der Strafe sondern eine Ethik des Helfens macht unsere Gesellschaft menschlicher."Peter Hintze, CDU
Das Statement von Ulrike Flach im Original