ZWEILEBENBilanz einer Todesnacht
„Ich will vergessen, was passiert ist. Aber in der Nacht kommen die Bilder, die sind wie Gespenster“, sagt er. „Ich bin kein Mörder.“
70 Kilometer entfernt sitzt ein anderer alter Mann im Rollstuhl. In der offenen Küche seiner Doppelhaushälfte trinkt er mit seiner Frau Kaffee. Ihre Hände berühren sich. Er sagt, er sei nicht verbittert. Aber er denkt oft an den alten Mann aus dem Wald.
„Wenn ich ihn erschossen hätte, würde mein Kollege noch leben“, sagt er.
Dezember 1981.
Eine Samstagnacht, fünf Minuten vor elf. Ein Lichtblitz, dann die Detonation: Eine Splitterhandgranate explodiert auf dem Parkplatz der Sparkasse in Bensheim. Die Druckwelle reißt Achim Benick in die Luft, schleudert ihn auf das Betonsteinpflaster. Benick ist 26 und Polizeiobermeister. Er wird für immer querschnittsgelähmt bleiben.
Der Mann, der auf die Polizei feuert und Handgranaten wirft, heißt Bernhard Kimmel. Er ist damals 45 Jahre alt und bereits für mehr als 60 Straftaten verurteilt worden. Kimmel schießt einem Polizisten in den Kopf und flieht, selbst von Kugeln getroffen. Sechs Stunden später stellt ein Einsatzkommando Kimmel in dessen Wohnung. Kimmel wird in der Dezembernacht vor 37 Jahren zum Mörder, auch wenn er das für den Rest seines Lebens nicht wahrhaben will.
1972 schafft es Kimmel selbst auf die Leinwand. Er spielt im deutsch-französischen Kinofilm „Das Unheil“ einen Fahnenflüchtigen, der sich mit Armee und Staat anlegt. Er berät Drehbuchschreiber, hilft den Ausstattern bei der Wahl der Waffen und arbeitet als Stuntman. Der Leinwandruhm bringt Geld. Für Interviews nimmt er bis zu 15.000 Mark, schreibt Kimmels Biograf Rainer Thielen. Der Boulevard liebt ihn. „Wir halten zu dir“, rufen ihm Pfälzer Arbeiter in Fleischmanns Dokumentarfilm zu. Ein gefundenes Fressen für manche Medien. Die feiern ihn als einen modernen Robin Hood.
Der „Kimmel-Mythos“ interessiert den jungen Benick nicht besonders. Er sieht den Fassbinder-Film in der ARD und vergisst ihn wieder. Der Verbrecher gilt als resozialisiert und scheint im Filmgeschäft zu sein. Benick wird in den siebziger Jahren Polizist. 1972 sieht er das Münchner Olympia-Attentat im Fernsehen. Außerdem macht die Polizei überall in der Bundesrepublik Jagd auf die Baader-Meinhof-Bande.
Benick will auf der Seite des Rechts stehen, etwas unternehmen. Er wählt die Uniform.
1981 ist es vorbei mit dem Filmgeschäft. Kimmel ist 45. Er hat eine junge Freundin. Nur noch selten bieten ihm Journalisten Geld für Interviews an. Er ist pleite. Es reicht nicht für die Miete. Das Geld will er sich aus der Bensheimer Sparkasse besorgen. Es wird sein letzter Einbruch. Der endet mit dem Tod eines Unschuldigen.
Als Benick 1974 den Polizeidienst in Bensheim antritt, denkt er: Hier passiert mir nichts. Hier ist es ja ruhig. Bis zu dieser Dezembernacht im Jahr 1981, als er und vier weitere Polizisten zur Sparkasse in der Wormser Straße gerufen werden. Zwei Streifenwagen fahren von der Wache los. Benick stoppt am Eingang der Bankfiliale, das andere Auto blockiert den Hinterausgang neben einer geschlossenen Tankstelle. Benick schleicht vor, sein Beifahrer steigt aus, hält sich an seiner Maschinenpistole fest.
Während die Polizei Straßen absperrt, reißt der Schmerz Benick aus der Bewusstlosigkeit.
„Als ob jemand 300 Zigaretten auf mir ausdrückt“, sagt er heute. Einer der 270 Splitter steckt im zwölften Brustwirbel, direkt über der Lendenwirbelsäule. Der Splitter schneidet durch die Nervenbahnen des Rückenmarks. Das fünf Millimeter lange Stück Eisen macht ihn zum Querschnittsgelähmten.
An die erste Stunde seines Lebens als Querschnittsgelähmter erinnert sich Benick kaum noch. Da sind die roten Jacken und weißen Hosen der Sanitäter, der Notarzt, der mehrmals an seiner Vene vorbei sticht, bis er eine Infusion legen kann. Dann strömt das Schmerzmittel in sein Blut. Benick verliert das Zeitgefühl. Betäubt. Den US-Armeehubschrauber nimmt er kaum noch wahr, der mitten auf der Wormser Straße in Bensheim landet und ihn in die Uniklinik nach Heidelberg bringt. Dann wird es schwarz um Benick. Neben ihm liegt sein Kollege mit einem Loch in der linken Schläfe, aber noch am Leben. Eine Woche später wird er sterben. Eine Ehefrau wird zur Witwe, zwei Kinder trauern um ihren Vater.
Kimmel rennt, obwohl drei Kugeln in seinen Beinen stecken. Er flieht durch Gärten, geht in eine Kneipe, ruft vom Münztelefon ein Taxi. Als die Polizei ihn im Morgengrauen in seiner Viernheimer Wohnung festnimmt, hat er viel Blut verloren. Es sickert aus den Wunden und sammelt sich in seinen Schuhen. Bei jedem Schritt quietscht es. Die Polizei bringt ihn in die Notaufnahme. Sobald sein Zustand stabil ist, muss er ins Gefängnis.
Nie wieder?
Nie wieder.
22 Jahre sitzt Kimmel ab. Diesmal schenken ihm die Richter nichts.
Benick kommt auf Krücken einige Meter weit. 37 Jahre nach der Nacht von Bensheim kämpft er sich sogar die Treppen hinauf. Das braucht viel Zeit, aber er schafft es. Benick bewegt sich viel. Mit seinem Handbike schafft er bis zu 40 Kilometer lange Strecken. Oder er unternimmt mit seiner Frau Ausflüge. Heute hockt er am Tisch seiner offenen Küche und trinkt mit seiner Frau Kaffee. Er sieht friedlich aus.
Bitterkeit? Hass? Benick winkt ab. „Ich war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.“
Eigentlich hatte er an jenem Samstag im Jahr 1981 freinehmen wollen, für eine Weihnachtsfeier in Bensheim. Aber die Vorgesetzten hatten ihn für die Nachtschicht eingeteilt. „So ist das eben als Polizist“, sagt er. „Und statistisch gesehen ist der Beruf gar nicht so gefährlich.“ Von den 14.260 hessischen Polizisten starb 1981 einer durch Waffengewalt. Ein anderer wurde schwer verletzt. „Ich war halt ein Pechvogel“, sagt Benick. Er lächelt. Benick möchte nicht zulassen, dass die Folgen einer Nacht seine Zukunft bestimmen. Er will das Leben genießen. Mit seiner Frau plant er eine lange Reise.
Der Mann, der Benick zum Rollstuhlfahrer machte, ist heute 82. Er lebt in einem Ein-Zimmer-Küche-Bad-Apartment einer Seniorenwohnanlage bei Landau. Er ist gut zu Fuß. Man merkt Bernhard Kimmel die einstigen Schusswunden nicht an. Der Bart ist weiß geworden, das Gesicht eingefallen. Die Cordhose schlackert um seine dünnen Beine. Flusen hängen an seiner ausgebleichten Wolljacke. Er schläft schlecht, sagt er. Es ist früh am Morgen. „Ich hab noch nichts gefrühstückt. Ich hab Kohldampf“, sagt er. Seine Küche sieht unbenutzt aus.
„Hast du ne Zigarette?“, fragt Kimmel. Er duzt jeden und möchte geduzt werden. 15 Euro liegen auf dem Tisch. Die lässt er nicht aus den Augen. Als er ins Bad geht, steckt er sie ein. Für ihn ist das offenbar viel Geld.
„Ich hab den Ruhm genossen“, sagt er.
Von der Traurigkeit in seinem Apartment ist nichts mehr zu spüren.
Was ist mit dem Mord in Bensheim?
Er wird leise. Er habe nur deshalb geschossen und die Handgranate geworfen, weil er in Panik geraten sei. Er habe Angst vor dem Gefängnis gehabt.
„Ich hab das nicht gewollt, ich bin kein Mörder“, sagt er.
Widerspricht man ihm, gibt er sich entsetzt. Er möchte nicht verachtet werden, sagt er. Kimmel schweigt, zündet sich eine Zigarette an. Seine Finger zittern. Dann: „Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, er hätte mich erschossen und der Polizist würde noch leben. Dann wär ich im Kampf gefallen wie ein Soldat.“ Man merkt: Er hat schon oft in Mikrofone gesprochen.
„Wie bei der RAF. Über die hat jeder gesprochen. Über die hat man Kinofilme gedreht. Die Opfer hat man aber schnell vergessen“, sagt er. Wie bei Kimmel. Auch in den Fleischmann-Filmen widerspricht ihm niemand. Opfer oder Hinterbliebene von Kimmels Gewalt kommen nicht vor. Benick findet Fleischmann widerwärtig. Der ehemalige Polizist verabscheut den Rummel um den ehemaligen Verbrecher. „Seine Tränen sind kein Zeichen von Reue, sondern Selbstmitleid“, sagt Benick. Er kann das Interesse vieler Intellektueller an Kimmel nicht verstehen.
Kimmel und seine Bande brachen in der Silvesternacht des Jahres 1960 dort ein. Sie randalierten, betranken sich und zündeten das Haus an. Auch Kimmels Geliebte Tilly war dabei. Dann zogen sie weiter. Zum nächsten Waldhaus. Dort überraschte sie Hüttenwart Karl Wertz. Er wollte die Betrunkenen verjagen. Kimmel schoss daneben. Das Bandenmitglied Lutz Cetto erschoss Wertz. Elf Jahre später erschießt Kimmel in Bensheim einen Polizisten.
in eine Bank einbrechen?
Wegen des Geldes?
„Nein. Ich hab den Nervenkitzel gebraucht. Es hat mich gejuckt.“
Seit mehr als 14 Jahren lebt Kimmel in Freiheit.
Sein Opfer liegt auf dem Friedhof von Bensheim.
„Ich werde langsam vergesslich“, sagt Kimmel.
Benick kann nicht vergessen. Aber er hat mit der Nacht abgeschlossen, in der ihn Kimmel zum Querschnittsgelähmten machte. Sagt er zumindest. „Ich bin froh, dass er weiter weg wohnt. Es wäre unangenehm, ihm hier noch mal begegnen zu müssen“, sagt Benick.
Kimmel will Benick nicht sehen. Er sagt, er habe Angst, dass Benick sich an ihm rächen will.
Ob Kimmel dement sei, fragt Benick.
Hat er eine Familie?, fragt Kimmel.
Editorial
Deshalb erschien in den Zeitungen der VRM am 10. März 2018 ein Porträt über den Ex-Polizisten Achim Benick. Der kam dem Einbrecher bei einer Schießerei im Jahr 1981 in die Quere und ist seitdem querschnittsgelähmt. Kimmel behauptete immer wieder, kein Mörder gewesen zu sein. Bei einem Ortsbesuch bricht der ehemalige Einbrecher sein jahrelanges Schweigen. Der Autor konfrontiert Kimmel mit dessen Lebenslüge.